„Ich habe ein kleines Problem, dass mich aber trotzdem im Büro inzwischen extrem belastet. Mein älterer Kollege, mit dem ich seit einem knappen Jahr zusammenabeite, ist so gestrickt, dass ich mich ständig aufrege und ärgere. Manchmal ist es nur ein Satz, den er am Telefon zu anderen Bereichen sagt, der mich auf die Palme bringt, weil das so nicht stimmt – da könnte ich ihn erwürgen. Gibt es ein Mittel, dass mich beruhigt?“ (Ian G.)
Sehr geehrter Herr G., natürlich gibt es verschiedene Mittel oder besser gesagt Möglichkeiten.
Eine schlaue Frau, Vera F. Birkenbihl, hat einmal festgestellt, dass sich jedes Wort, das wir sagen oder im Stillen denken, auf unsere Wahrnehmung und demzufolge auch auf unsere späteren Erfahrungen auswirkt.
Auch auf solche im Bezug zu Mitmenschen. Angenommen, Ihr Kollege tat etwas, was Sie als No-Go empfinden, vielleicht das erwähnte Telefonat. Nun fassen Sie die Situation in ihre Worte, vielleicht in einem Gespräch mit einem Freund oder einer Freundin oder im Selbstgespräch. Nebenbei bemerkt heißt das Selbstgespräch im blumig-poetischen arabischen Sprachgebrauch „mit der Seele sprechen“. Aber zurück zu Ihrem Problem.
Was werden Sie anderen (oder Ihrer Seele) wohl erzählen? Möglicherweise sagen sie, wie furchtbar Sie unter diesem Menschen leiden und dass dies schier unerträglich sei. Ich denke nicht, dass Sie ihn wirklich erwürgen würden, denn dann kämen Sie ja wahrscheinlich ins Gefängnis. Und das bringt mich zu dem Punkt, auf den ich hinaus will: Solche Situationen sind alltäglicher Ärger, der (auf verschiedene Weise) erduldet werden kann, im Sinne von: Sie dulden ihn! Alltäglicher Ärger unterscheidet sich ganz wesentlich von Situationen, in denen es um Fragen des Überlebens (physisch wie finanziell) geht; denken Sie einmal an das, was vielen Menschen 2021 im Ahrtal widerfahren ist. Wenn Sie sich aber bei Alltagsärger schon derartig aufregen, wie sagen Sie der Welt in wirklich lebenswichtigen Momenten? Ich lasse meine SeminarteilnehmenInnen hier gerene die Frage beantworten: „Ist DAS wirklich lebensnotwendig?“ Wenn man hier zu sich ernsthaft ist, relativiert sich beispielsweise Ihr Büroärger, den ich durchaus verstehen kann.
Überlegen Sie einmal, was passieren würde, wenn Sie ihre Darstellung derart verändern würden, dass sie (auch sich) sagen: „Im Grunde finde ich diesen Menschen faszinierend. Dass jemand überhaupt so sein kann wie er? Wie geht es mit ihm wohl weiter? Das will ich herausfinden.“ Schreiben sie sich alles auf, was er an kuriosen Dingen fabriziert. Ja, sagen Sie der Welt: Der Kerl ist so ein …, dass ich ein Buch über ihn schreibe und viel Geld damit verdienen werde, weil das ein Bestseller und verfilmt werden wird. „Niemand weiß, was die Zukunft bringt“, sagt Charles Bronson zu Henry Fonda in „Spiel mir das Lied vom Tod“ – heißt für Sie: Ob es ein Buch geben wird, weiß keiner. Aber wenn Sie dies so ankündigen, merken alle (auch Sie selbst), dass Sie eher in Richtung einer intelligenten Lösung denken und nicht mehr nur an das Problem.
Einer meiner Tipps für Sie wäre also: Wecken Sie Neugierde und Interesse an der Situation, anstatt sich wie bisher selbst „in Rage“ zu reden.
In diesem Sinne
gez.
Rainer W. Sauer
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